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Leben mit der Vielfalt individueller Ausdrücke

Ist oder wird man behindert? Das ist eine der Fragen, die wir uns laut Nives Kasalo-Petric und Stephan Wagenhofer als Gesellschaft stellen sollten, um unser Zusammenleben und -wohnen inklusiver und gleichberechtigter zu gestalten. Mit der inklusiven Wohngemeinschaft „LebeBunt!“ zeigen die Projektleiterin und der WG-Koordinator aus dem Verein Integration Wien sehr veranschaulichend vor, wie das im Alltag konkret funktioniert und berichten darüber in unserem Interview.

Frau Kasalo-Petric, Herr Wagenhofer, was macht der Verein Integration Wien? Welche Möglichkeiten bietet er für selbstbestimmtes Wohnen?

Der Verein »Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen – Integration Wien« arbeitet seit 1986 für Inklusion von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft. Das heißt, dass wir uns für ein Leben ohne Aussonderung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung einsetzen. Kinder mit und ohne Behinderung sollten miteinander heranwachsen sowie mit- und voneinander lernen können. Innerhalb des Vereines gibt es verschiedene Projekte. Wir beraten, unterstützen und begleiten in Fragen zu Kindergarten, Pflichtschule, Übergang Schule-Beruf, berufliche Teilhabe und Integration, Freizeit und Wohnen.  
Punkto selbstbestimmtes Wohnen führen wir seit 2018 das inklusive Wohnprojekt „LebeBunt!“ in der Seestadt Aspern, gefördert durch den Fonds Soziales Wien. Darüber hinaus bieten wir mobile Wohnassistenz im Rahmen des teilbetreuten Wohnens an.

Was bedeutet „inklusives Wohnen“?

Inklusives Wohnen bedeutet, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam wohnen. Das muss noch nicht heißen, dass sie gemeinsam in einer Wohnung leben. Primär geht es darum, Angebote jenseits der üblichen aussondernden Einrichtungen zu schaffen. Aussondernde Einrichtungen sind solche, in denen nur Gruppen von Menschen mit Behinderung wohnen. Das Problem an solchen Einrichtungen ist, dass die Menschen, die dort leben, ein hohes Risiko für soziale Isolation haben und von alltäglicher Fremdbestimmung betroffen sind. Und ganz nebenbei bemerkt, fördern diese Einrichtungen damit auch nicht unbedingt das Ziel, Menschen mit Behinderung vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zu holen.            
Inklusives Wohnen ist deswegen so wichtig, weil wir die Vorurteile und Ressentiments in unseren Köpfen nur durch Begegnung und Auseinandersetzung loswerden können. Und der Wohnbereich ist dafür ein ganz zentraler Ort.        
Da das Angebot von inklusiven und alternativen Wohnformen für Menschen mit Behinderung in Österreich noch sehr überschaubar ist – es gibt nur fünf inklusive WGs in ganz Österreich –, kann noch nicht davon die Rede sein, dass wir den Idealen der UN- Behindertenrechtskonvention entsprechen. Dort heißt es in Artikel 19, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben müssen „ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“. Solange nicht mehr inklusive und alternative Wohnangebote geschaffen werden, kann leider noch nicht von Wahlfreiheit gesprochen werden.

Wie gelingt das Zusammenleben von Menschen mit als auch Menschen ohne Behinderung?  
Prinzipiell funktioniert inklusives Wohnen genauso wie jede andere Wohngemeinschaft. Es müssen Regeln für das Zusammenleben und das Aufrechterhalten der Ordnung geschaffen werden. Konflikte müssen angesprochen und besprochen werden. Die gegenseitige Privatsphäre muss respektiert werden. Es werden Freundschaften geknüpft. Gemeinsame Interessen werden entdeckt – oder auch nicht.
Da manche Menschen mit Behinderung unter Umständen in den Bereichen Kommunikation und Interaktion andere Voraussetzungen mitbringen, ist es wichtig, durch die Herstellung von Rahmenbedingungen ein gutes Auskommen zu begünstigen. Dazu zählen beispielsweise Informationen in leichter Sprache, symbolgestützte WG-Kalender, auf denen die Aufgaben der Bewohnerinnen und Bewohner festgehalten werden, die Unterstützung durch Wohnassistentinnen und -assistenten für Menschen mit Behinderung und die Möglichkeit jemand außenstehenden, im Sinne eines Coachings, um Rat oder Mediation bitten zu können. Wesentlich ist natürlich auch eine barrierefreie Wohnraumgestaltung. Dazu gehören breite Gänge, automatische Türöffner, höhenverstellbare Küchengeräte, behindertengerechte Sanitäranlagen und selbstverständlich ein Aufzug!  
Aus etlichen Gesprächen mit unseren Bewohnerinnen und Bewohnern geht eines deutlich hervor: Nach kurzer Zeit des Zusammenlebens spielt die Behinderung überhaupt keine Rolle mehr. Selbst wenn man zuvor überhaupt keinen Kontakt mit Menschen mit Behinderung hatte. An dieser Stelle möchten wir einen unserer Bewohner zitieren: „Ich habe Menschen mit Behinderung nicht normal gefunden, aber jetzt – wir sitzen nebeneinander, essen gemeinsam, umarmen uns. Da bin ich stolz auf mich, dass ich akzeptiert und gelernt habe: Das gehört einfach zum Menschen!“

Welche Fragen sollten wir uns Ihrer Meinung nach als Gesellschaft stellen, um unser Zusammenleben und -wohnen inklusiver und gleichberechtigter zu gestalten?        
Ist oder wird man behindert? Diese zentrale Frage müssen wir uns als Gesellschaft stellen. Behinderung sollte nicht als inhärentes Merkmal eines Individuums betrachtet werden, sondern als Produkt systemischer Wechselwirkung. Das bedeutet, dass der Grad der erlebten Behinderung in Abhängigkeit von Kontextfaktoren variieren kann. Einfach gefragt, heißt das zum Beispiel: Wie behindert wäre eine Rollstuhl-benutzende Person, in einer völlig barrierefreien Welt? Ohne Hindernisse wie Treppen, alten Straßenbahngarnituren oder unerreichbaren Produkten im Supermarkt würde sich das Ausmaß, in dem so eine Person von Unterstützungsleistungen und Autonomieverlust betroffen ist, durchaus reduzieren. Dieses Denkmodell lässt sich aber nicht nur auf Menschen mit Körperbehinderungen anwenden. Wie behindert wäre denn eine Person mit Intelligenzminderung in einer Gesellschaft, in der sich der Wert eines Menschen nicht entlang seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit misst, sondern seine bloße menschliche Existenz dafür ausreicht, um als wertvolles Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden? Wie behindert wären Menschen mit autistischen Ausprägungen in einer Welt, in der nicht vordergründig soziale Skills und Anpassungsfähigkeit gefragt sind, sondern auch individuelle autistische Fähigkeiten wie Hyperfokussierung oder monothematische Spezialisierung als Ressource betrachtet werden würden? Würde Gehörlosigkeit noch als Behinderung gelten, wenn Gebärdensprache in sämtlichen Schulen fixer Bestandteil des Unterrichts wäre und somit auch hörende Schülerinnen und Schüler auf ganz natürliche Weise diese Sprache mitlernen könnten?     
Es geht also nicht nur um die Aufhebung von Barrieren im baulichen Sinn! Es müssen auch die Barrieren im Kopf abgebaut werden! Am besten gelingt das durch Begegnung – weil fremd ist uns immer nur das, was wir nicht kennen. Projekte wie „LebeBunt!“ schaffen Begegnungsräume im alltäglichen Wohnumfeld. Es ist aber auch wichtig, Begegnungsräume in allen anderen Lebensbereichen zu schaffen! In der Arbeit, im Kindergarten, in der Schule und in der Freizeit.  
Unsere Vision ist, dass inklusive WGs auch von Privatpersonen gegründet werden und als etwas ganz Normales aufgefasst werden. Was die baulichen Voraussetzungen betrifft, liegt es natürlich an den Bauträgern, die dafür nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Die Bauträger sollten dabei auf Fördermöglichkeiten zurückgreifen können. Breite Gänge, barrierefreie und behindertengerechte Wohneinrichtungen und Sanitäranlagen sollten beim Bau neuer Zinshäuser mitgedacht werden.

Was können wir in unserem Alltag machen, um ein inklusiveres Miteinander zu fördern?      
Wir können Begegnungen zulassen und offen für die Anderen und das Neue sein. Wir können die Idee des inklusiven Wohnens in die Welt hinaustragen. „LebeBunt!“ zeigt, dass das Zusammenwohnen von Menschen mit und ohne Behinderung funktioniert. Dass das Merkmal Behinderung ein Konstrukt ist, das zu einer gesellschaftlichen Trennung führt. Und dass wir dieses Konstrukt überwinden können.    
Was es dazu braucht, ist zum Beispiel die Bereitschaft in der Kommunikation mit Menschen mit Behinderung auf deren individuelle Bedürfnisse einzugehen. Das heißt, geduldig zu sein und leichte Sprache zu verwenden. Oder dass wir gemeinhin als irritierend wahrgenommene Verhaltensweisen nicht pathologisieren, sondern als Ausdruck menschlicher Individualität begreifen. Denn dem Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen, heißt es für voll zu nehmen. Als Kellner*in nicht die Begleitperson zu fragen, was der Mensch mit Behinderung will, sondern den Menschen direkt anzusprechen und sich dafür Zeit zu nehmen, ihn in seiner individuellen Ausdrucksweise zu verstehen. Oder als Krankenpflegeperson zu versuchen, die Bedürfnisse eines Menschen mit Behinderung auf direktem Weg in Erfahrung zu bringen, anstatt sich nur an den Informationen in der Übergabemappe zu orientieren. Oder als Lokalbetreiber*in barrierefreie Zugänge zu schaffen und symbolgestützte Speisekarten anzubieten. All das sind wichtige Beiträge dazu, unser Miteinander inklusiver zu gestalten.

Weitere Informationen

„LebeBunt!“ bietet insgesamt acht Menschen ein Zuhause. Da das Projekt großen Anklang findet, ist die Warteliste schon recht lange – der Verein hofft deswegen, dass möglichst bald viele weitere vergleichbare Projekte gestartet werden.
Wer noch ein paar visuelle Eindrücke vom vielfältigen Angebot und Leben des Vereins bekommen möchte, kann diese auf der Webseite, auf der Facebook-Seite, dem YouTube-Kanal und besonders interaktiv auf einer Veranstaltung bekommen. Der Verein freut sich über Ihre Unterstützung!

 


(c) Animation: Ernst Spiessberger; Sprecherin: Daniela Mitterlehner; Musik: Fils Tool – La ville (instrumental); Eine Zitronenwasser Social Art Movie Produktion 2019

Mit herzlichem Dank an:

Der diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger und Advanced Nursing Practitioner Stephan Wagenhofer, BSc ist Koordinator des inklusiven Wohnprojektes „LebeBunt!“ vom Verein Integration Wien. Zudem hält er hält er an Gesundheits- und Krankenpflegeschulen Vorträge mit dem Schwerpunkt „Menschen mit Behinderung“.

Die diplomierte Sonder- und Heilpädagogin Mag.a Nives Kasalo-Petric ist Leiterin der Projekte „Teilbetreutes Wohnen“ und von „LebeBunt!“, der inklusiven Wohngemeinschaft vom Verein Integration Wien.

 

Fotos: Integration Wien

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