Willkommen am Ostpol!
Woran denken Sie als erstes, wenn Sie das Wort „Osten“ hören? An die Himmelsrichtung? An den Morgen und den Sonnenaufgang? An den mittlerweile Geschichte gewordenen Ostblock hinter unserer Ost-Grenze? Seit langem schon wird der Osten aber auch mit dem Frühjahr und der Erneuerung in Verbindung gebracht – und daher nimmt sich FAIRliving aus aktuellem Anlass Zeit für einen weitschweifenden Blick dorthin.
Sich dem Osten zu nähern ist eine komplizierte Angelegenheit. Mit jedem Schritt, jedem Kilometer, den wir in Richtung Osten zurücklegen, rückt er unversehens wieder nach – und ist genauso östlich wie zuvor. Der Osten ist immer genau da, wo wir nicht sind. Oder sind wir – ohne es gemerkt zu haben – gar schon im Westen angekommen? Klar ist, so kommen wir nicht weiter! Am besten, wir bleiben kurz in unserer Mitte und nähern uns dem Osten auf ganz andere, vielseitige Art.
Eine Himmelsrichtung mit Tradition
Was den Osten von allen anderen Haupthimmelsrichtungen unterscheidet, ist seine besondere historische und kulturelle Bedeutung, speziell für uns Europäer. Das Wort Osten wird seit dem 15. Jahrhundert im Deutschen verwendet und leitet sich aus dem althochdeutschen Ostan ab. Im antiken Rom wurde er Oriens genannt, woraus sich der Orient ableitet – also die entfernten Gebiete, in denen (scheinbar) die Sonne aufging. Noch heute benennen wir der Einfachheit halber Teile Asiens als Naher Osten, Mittlerer Osten und Ferner Osten. Wegen der aufgehenden Sonne und dem beginnenden Leben verbinden wir aber nicht nur den Morgen, sondern auch das Frühjahr mit dieser Himmelsrichtung. Kein Zufall also, dass unser Osterfest sprachlich nahe an dem althochdeutschen Ostan angesiedelt ist. Apropos Ostern: Der Osten hat natürlich auch eine religiöse Bewandtnis. Am Ostermorgen bei Sonnenaufgang wurde das Grab von Jesus Christus leer vorgefunden. Er soll angeblich aus östlicher Richtung kommend wieder in die Welt getreten sein. Seither steht die Morgenröte (Aurora) für Auferstehung – und der Osten ganz grundsätzlich für Erneuerung. Ein Grund, warum sich früher viele Christen gerade um Ostern taufen ließen.
Orientierung nach der Naturmethode
Die Kirche kann uns aber auch bei der Orientierung helfen. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass sehr viele Kirchen (angeblich die meisten) gegen Osten ausgerichtet sind? Der Kirchturm steht im Westen und der Altar weist in östliche Richtung – möglicherweise, weil das schöne rötliche Morgenlicht den Altar zum Scheinen bringt. Auf jeden Fall ist das auch praktisch. Wer in der Stadt oder über Land die Orientierung verloren hat, kann, wenn er um die bauliche Eigenart weiß, sich wieder gut ausrichten und den richtigen Weg finden. Wem diese Methode zu unsicher ist, der hat vermutlich sowieso einen Kompass dabei – oder hält sich an den guten alten Sinnspruch: Im Osten geht die Sonne auf, im Süden ist ihr Mittagslauf und so weiter …
Und was macht man, wenn es finster ist? In der Nacht kann man sich jetzt im Frühjahr an den Sternbildern Löwe, Krebs und Wasserschlange orientieren – oder über das sogenannte Frühjahrsdreieck: Verbindet man die äußeren Eckpunkte von Löwe, Jungfrau und Bärenhüter zu einem Dreieck, so weist die kürzeste Seite des Dreiecks genau Richtung Osten. Das ist zugegeben etwas kompliziert und bedarf einiger Sternenkenntnis.
Eine Drehung mit Folgen
Wer hätte gedacht, dass auch bei der guten alten Landkarte Vorsicht angebracht ist: Denn ganz alte Karten waren nicht so wie heutzutage gegen Norden ausgerichtet, sondern gegen Osten. Der Osten erschien dem Betrachter also bis ins Spätmittelalter auf der Karte oben. Offenbar hat der Norden dem Osten den Rang als Orientierungs-Himmelsrichtung abgelaufen.
Der Osten hinter uns
Kommen wir zurück ins Hier und Heute. Wer sich aus Wien weg in Richtung Osten bewegt, passiert auf der A4, der Ostautobahn, weitläufige Raffinerie-Komplexe, über denen Flugzeuge zur Landung am Flughafen Wien-Schwechat ansetzen. Noch weiter östlich liegen die Römersiedlung und das Weinbaugebiet Carnuntum. Vorbei an den heimischen Ausläufern der Kleinen Karpaten, gelangt man in die östlichste Stadt Österreichs, Hainburg. Wo sich heute Autokolonnen durch die enge Altstadt und historische Tore zwängen (Österreicher nach Bratislava, Slowaken nach Hainburg und Wien), herrschte bis vor 25 Jahren Ruhe, Beschaulichkeit, Abgeschiedenheit.
Hier ließ der Eiserne Vorhang scheinbar die Welt enden. Und wenige Kilometer weiter an der Grenze, wo früher grimmige Zollwachebeamte Autos durchsuchten, Einreisedokumente studierten und Einreisewillige perlustrierten, fließt heute unablässig und unbeschrankt der freie Grenzverkehr. So umständlich und abenteuerlich die damalige Tschechoslowakei zu bereisen war, so weltoffen und freundlich zeigen sich die nahe Hauptstadt Bratislava und die Slowakei.
Durch den Fall des Eisernen Vorhangs sind aber auch andere Staaten näher an uns herangerückt – und scheinen nicht so unerreichbar weit weg wie im damals sogenannten Ostblock: Tschechien, Moldawien, die Ukraine, Polen, Ungarn und Rumänien sind in die Mitte Europas gerückt – und werden heute von Wien aus bereist, wie früher Tirol, Vorarlberg oder die Schweiz. Es hat sich viel verändert – und dennoch boomt derzeit eine Strömung, die als Ostalgie bezeichnet wird: die Zusammensetzung von Ost und Nostalgie. Es handelt sich dabei um einen liebevollen, leicht sentimentalen Rückblick in eine Zeit, in der Transitvisa beantragt wurden, Geld in dubiosen Wechselstuben umgetauscht wurde und Kürzel wie UDSSR, DDR und KGB gang und gäbe waren. Speziell im ehemaligen Ostdeutschland wurde durch den Film „Goodby Lenin“ eine wahre Ostalgie-Welle ausgelöst. Sie zeigt sich darin, dass damals typische Kleidung, Autos und Lebensmittel wieder besonders modern und auf kuriose
Weise beliebt sind. Für Ostdeutschland bedeutet das: Armeehemden, Trabis und Spreewaldgurken.
Fernöstliche Wohnungsplanung
Aber auch in den eigenen vier Wänden zahlt es sich aus, sich näher mit dem Osten zu beschäftigen. Dabei liefert Feng Shui, die traditionelle chinesische Wohnphilosophie, gute Anhaltspunkte für die Wohnraumplanung. Feng Shui hat zum Ziel, die Bewohner in ihrer Umgebung zu harmonisieren und zu einem angenehmen, konstruktiven Zusammenleben zu kommen. Dabei wird der Wohnbereich in einem Raster in neun thematische Felder eingeteilt: Dazu zählen etwa Beziehung und Partnerschaft, Reichtum und Finanzen oder Anerkennung und Ruhm. Im Osten des Rasters ist zum Beispiel der Bereich Kinder angesiedelt. Daher sollten hier die Schlafräume für Kinder und Jugendliche geplant werden, da die Richtung im Feng Shui für Aufbruch und Wachstum steht.
Grün symbolisiert auch im Feng Shui den Osten und das Frühjahr, Blau steht für den blauen Frühjahrshimmel – diese Farbtöne sollten bei der Inneneinrichtung überwiegen. Die verwendeten Materialien sind optimalerweise natürlichen Ursprungs: also Holzmöbel, Parkettböden und Baumwollstoffe. Übrigens: Im Feng Shui gibt es unterschiedliche Traditionen und Anwendungen des Wohnungsrasters, auch Bagua genannt. Wer sich für dafür interessiert, bekommt über die Suchmaschine sehr leicht einen guten Überblick. Einführungen, Tipps für die Planung und Einrichtung sowie unterschiedliche Baguas erleichterndas Experimentieren mit dieser fernöstlichen Wohnphilosophie. Natürlich gibt es mittlerweile auch viele Feng-Shui- Berater, die gerne zur Seite stehen. Ein Blick in den Osten lohnt sich in jedem Fall – auch der aus dem Fenster, in der Früh vor und während des Sonnenaufgangs. Die ganz besonderen Licht- und Wolkenstimmungen zu dieser Tageszeit sind es oft wert, ein paar Minuten vor dem Weckerläuten aufzustehen. So oder so ähnlich muss es wohl auch Joseph von Eichendorff getan haben. Wie sonst wäre er wohl auf diese stimmungsgeladenen Zeilen gekommen?
Frühe
Im Osten graut’s, der Nebel fällt,
Wer weiß, wie bald sich’s rühret!
Doch schwer im Schlaf noch ruht die Welt,
Von allem nichts verspüret.
Nur eine frühe Lerche steigt,
Es hat ihr was geträumet
Vom Lichte, wenn noch alles schweigt,
Das kaum die Höhen säumet.